KOLUMNE AUS DER WUNDVERSORGUNG VON KERSTIN PROTZ
Das International Skin Tear Advisory Panel (ISTAP) ist ein internationales, multidisziplinäres und interprofessionelles Gremium, das sich der Prävention, Klassifikation und Behandlung von Einrissen fragiler Haut, sogenannten Skin Tears, widmet. Im ISTAP ist medizinisches und pflegerisches Fachpersonal aus Afrika, Asien, Australien, Europa, dem Nahen Osten, Nordamerika und Südamerika vertreten.
Definition
Skin Tears sind traumatische Wunden, die oft bei älteren Menschen aber auch bei Neugeborenen und Kindern auftreten, da deren Haut nicht mehr oder noch nicht voll belastbar bzw. entwickelt ist. Laut ISTAP werden hierbei die Hautschichten - Epidermis (Oberhaut) und Dermis (Lederhaut) - voneinander und ggf. vom darunter liegenden Gewebe getrennt, z. B. durch Scherkräfte, Reibung und/oder stumpfe, mechanische Krafteinwirkung. Im Praxisalltag werden derzeit viele unterschiedliche Begriffe für Skin Tears genutzt, z. B.: Abschürfung, Ablederung, Lazerationen, Abrasionen, Erosionen oder nur ein kleiner Riss. Oft werden Einrisse fragiler Haut unterschätzt und als vermeintliche „Bagatellwunden“ gar nicht erst erfasst oder nicht korrekt diagnostiziert, z. B. als Dekubitus Kategorie II. Internationale Publikationen weisen darauf hin, dass Skin Tears genauso oft, wenn nicht sogar häufiger als Dekubitus auftreten. Laut Studien können falsch diagnostizierte und behandelte Skin Tears zu schweren Komplikationen, wie Schmerzen und Infektionen sowie zur Ausbildung chronischer Wunden führen. Die Folgen sind unnötiges Leid für den Patienten, Minderung seiner Lebensqualität sowie eine erhöhte finanzielle Belastung für das Gesundheitssystem. Besonders gefährdet sind Menschen im hohen Lebensalter sowie multimorbid und/oder chronisch Erkrankte. Diese Menschen haben ein höheres Risiko für wundbezogene Komplikationen, wie Wundinfektionen.
Haut bei Neugeborenen
Säuglingshaut ist noch nicht voll entwickelt. Sie ist sehr dünn und hat weniger Fibrillen, die in der Schicht zwischen Epidermis und Dermis, der sogenannten dermoepidermalen Junktionszone, für Stabilität sorgen. Dadurch können diese Hautschichten bei äußerer Einwirkung, wie Scherkräften oder mechanischer Krafteinwirkung leichter aufeinander reiben und einreißen. Ein hohes Risiko für die Entwicklung von Skin Tears besteht bis zu einem Alter von drei Jahren. Bei der Auswahl von Verbandmitteln ist daher darauf zu achten, dass diese die besonders empfindliche Haut von Neugeborenen und Kleinkindern nicht belasten.
Haut im Alter
Die Haut verändert sich mit zunehmendem Alter. Sie atrophiert, und insbesondere das subkutane Fettgewebe und die Epidermis werden dünner. Dadurch verringert sich die Druck- und Zugfestigkeit der Haut. Die Elastizität der Haut mindert sich und die Wasserspeicherkapazität nimmt ab. Zudem reduziert sich die Fähigkeit stabilisierende Kollagene zu bilden. Dadurch treten vermehrt alterstypische Falten auf, und die Pigmentierung der Haut ändert sich (Altersflecken). Die Reduktion der Schweiß- und Talgproduktion schränkt die Wirksamkeit des Säureschutzmantels zunehmend ein. Die ältere Haut ist somit eher dünn, trocken und unelastisch. Zudem werden kleine und große Blutgefäße durch arteriosklerotische Veränderungen dünner, so dass die Blutversorgung in den Extremitäten entsprechend langsamer wird. Diese Veränderungen erhöhen das Verletzungsrisiko und verlangsamen die Wundheilung bis hin zu Wundheilungsstörungen.
Lokalisationen von Skin Tears
- können an jeder Körperregion auftreten
- entstehen bei älteren Menschen oft an den äußeren Extremitäten
- ca. 80 % treten an den Armen auf: z. B. Ellenbogen, Unterarm, Handrücken
- 15 % treten an den unteren Extremitäten auf: z. B. Schienbein, Fußrücken
- 5 % entstehen an anderen Körperregionen
Cave: Skin Tears am Rücken oder im Gesäßbereich werden oft fälschlich als Dekubitus Kategorie II diagnostiziert.
Klassifikation von Skin Tears nach ISTAP
Ein Einriss fragiler Haut kann als teilweiser oder als vollständiger Haut-/Gewebeverlust klassifiziert werden.
Teilweiser Gewebeverlust: die Epidermis wurde von der Dermis getrennt
Vollständiger Gewebeverlust: Epidermis als auch Dermis wurden vom darunter liegenden Gewebe getrennt
Anhand der Hautschädigung unterscheidet diese Klassifikation Skin Tears in drei Kategorien.
Kategorie I - kein Gewebeverlust
Gradliniger, klar abgegrenzter Einriss fragiler Haut oder -lappen, der repositioniert werden kann, um die Wunde abzudecken.
Kategorie II – teilweiser Gewebeverlust
Teilweiser Verlust des Hautlappens, der nicht mehr positioniert werden kann, um die Wunde abzudecken.
Kategorie III – vollständiger Gewebeverlust
Vollständiger Hautlappenverlust, so dass die Wunde komplett offen liegt.
Risikofaktoren
Die Risikofaktoren unterscheiden sich in:
- systemische Risikofaktoren, die den gesamten Organismus beeinflussen und die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung von Skin Tears erhöhen. Dazu gehören z. B. der allgemeine Gesundheitszustand der Patienten sowie ihr Alter. So besteht für ältere Menschen, Säuglinge und Kleinkinder ein größeres Risiko, Skin Tears zu entwickeln.
- lokale Risikofaktoren, die durch äußerliche Einflüsse das Entstehen von Skin Tears begünstigen.
Wenn Patienten mehrere systemische und lokale Risikofaktoren aufweisen, erhöht sich deren Risiko für Skin Tears signifikant. Eine zeitnahe und sachgerechte Identifikation entsprechender Risikofaktoren erspart dem Patienten unnötige Schmerzen und Beeinträchtigen. Auf dieser Basis kann Skin Tears frühzeitig vorgebeugt und die Wundversorgung auf individuell angepasste, nicht haftende Wundauflagen umgestellt werden.
Systemische Risikofaktoren | Lokale Risikofaktoren |
Hautveränderungen:
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Mechanische Hautverletzungen:
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Mangelernährung und Flüssigkeitsmangel:
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Pflegepersonal:
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Mobilitätseinschränkung:
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Patientenumgebung:
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Allgemeiner Gesundheitszustand:
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Pflegeeinrichtung:
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Medikamente:
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Rauchen:
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Komplikationen
Laut Publikationen können bei bis zu 50 % der Skin Tears Komplikationen auftreten, die zu Infektionen oder chronischen Wunden führen.
Typische Komplikationen sind:
- Schmerzen: falsch behandelte Skin Tears erzeugen Schmerzen und mindern die Lebensqualität
- Chronische, komplexe Wunden: entstehen durch Skin Tears aufgrund chronischer Ödeme oder einer pAVK an den unteren Extremitäten
- Dekubitus: wird durch Skin Tears auf Knochenvorsprüngen begünstigt
- Infektion: aufgrund von fehldiagnostizierten oder falsch behandelten Skin Tears
Maßnahmen zur Risikominimierung
Das ISTAP hat insbesondere zu drei systemischen Risikofaktoren – Hautveränderungen, Mobilitätseinschränkungen und allgemeiner Gesundheitszustand – Therapieansätze benannt.
Hautveränderungen:
- ist die Haut trocken, dünn, empfindlich → Verletzungsrisiko einschätzen; erhöhtes Risiko von Altershaut bedenken
- trockene Haut mit Pflegeprodukten auf Wasser-in-Öl-Basis pflegen, die Feuchthaltefaktoren, z. B. Urea, Milchsäure oder Glycerin, enthalten
- Nutzung von pH-hautneutralen Waschlotionen (keine Seife) und von lauwarmem (kein heißes) Wasser
- Vermeidung von Skin Tears durch Verwendung von Verbandmitteln mit sanfter (z. B. Silikon) oder keiner Haftung; Fixierungen nutzen, die nicht einschnürend sind, z. B. elastische Schlauchverbände
- auf kohäsive Binden verzichten, da diese oft zu eng angelegt werden und so zu gravierenden Hautproblemen führen können
- Einsatz von Schutzkleidung bedenken, z. B. Schienbeinschützer, Hüftprotektoren, lange Ärmel oder polsternde Bandagen
- Medikamente identifizieren, die einen Einfluss auf die Haut haben, z. B. topische und systemische Kortikosteroide
- keine langen Fingernägel oder Schmuck tragen
Mobilitätseinschränkungen:
Bewertung des individuellen Sturzrisikos; darauf achten, dass geschlossene, den Gang unterstützende Schuhe, getragen werden
- ein sicheres Patientenumfeld gestalten, z. B. ausreichende Beleuchtung, keine Hindernisse
- Einrichtungsgegenstände und Geräte im direkten Patienteneinsatz entsprechend abpolstern
- Förderung von Bewegung und Selbständigkeit physisch eingeschränkter Patienten
- Vermeidung und Reduzierung von Reibe- und Scherkräften, z. B. durch spezielle Transfertechniken, Gleittücher oder Hebevorrichtungen
- auf einschnürende Kleidung, z. B. enge Strumpf-/Sockenbündchen verzichten und Kompressionsversorgungen sachgerecht anlegen
- mögliche Einrisse von fragiler Haut durch Haustiere einschätzen
Allgemeiner Gesundheitszustand:
- Patienten, pflegende Angehörige und Versorger über die Risiken von Skin Tears und ihre Möglichkeiten der Prävention informieren
- soweit möglich, Patienten und Angehörige in den Versorgungsprozess aktiv miteinbeziehen
- ausgewogene Ernährung und ausreichende Flüssigkeitszufuhr sicherstellen; bei Bedarf einen Ernährungsberater hinzuziehen
- Facharzt bei eingeschränkter sensorischer Wahrnehmung, z. B. Polyneuropathie, hinzuziehen
- mögliche Nebenwirkungen von Arzneimitteln auf die Haut des Patienten bedenken
Behandlung von Skin Tears
Die Therapie beginnt mit einer dreistufigen Akutbehandlung:
Blutung stoppen → Wunde reinigen → eingerissenen Hautlappen repositionieren
Durch gleichmäßigen Druck auf den Hauteinriss lässt sich eine Blutung stillen. Hierfür können einfache sterile Vlieskompressen oder bei etwas stärkerer Blutung auch ein Calciumalginat zum Einsatz kommen. Unterstützend können betroffene Extremitäten hochgelagert werden. Bei sehr großflächigen Skin Tears oder wenn eine Hautverletzung mit vollständiger Gewebetrennung vorliegt, die stark blutet, sollte ein Facharzt, z. B. Chirurg, konsultiert werden.
Nach Blutstillung erfolgt eine sanfte und vorsichtige Reinigung von Wunde und Umgebungshaut, z. B. mit einer physiologischen Wundspüllösung wie NaCl 0,9 % oder einer konservierten Wundspüllösung, z. B. Granudacyn®. Gewebe und mögliche Blutrückstände sind vorsichtig zu entfernen, z. B. mit angefeuchteter steriler Vlieskompresse und Pinzette.
Bei Skin Tears ist oft noch ein Hautlappen vorhanden. Ist dieser bereits abgestorben, sollte er zeitnah chirurgisch entfernt werden. Wenn der Hautlappen nicht abgestorben ist, ist dieser vorsichtig zu repositionieren. Dies kann beispielsweise mit einem steril-behandschuhten Finger, einer anatomischen Pinzette oder einem Silikonstreifen erfolgen. Um dies zu erleichtern, kann der Hautlappen vorab 5–10 Minuten mit einer sterilen, angefeuchteten Vlieskompresse rehydriert werden.
Zudem ist zu beachten, dass ggf. eine Tetanus-Impfung erfolgen muss.
Wundversorgung
Je nach Kategorie des Hautrisses sind Verbandmittel auszuwählen, die ein feuchtes Wundmilieu gewährleisten und so die Abheilung unterstützen. Zudem ist auf einen Schutz der Wundumgebung zu achten. Optimal sind sanft haftende Verbände, z. B. mit Silikon, die weniger Schmerzen beim Verbandwechsel und weniger Hautirritationen für den Patienten bedeuten. Solche Verbände haften nicht am Granulationsgewebe fest und verursachen keine neuen Traumata. Versorgungsoptionen, je nach Klassifikation:
Gefährdete Haut
ist dünn, empfindlich und anfällig für Skin Tears. Um die Haut nicht zusätzlich auszutrocknen sollten pH-hautneutrale Syndets oder Waschlotionen verwendet werden.
Die Haut ist optimalerweise täglich mit Pflegeprodukten auf Wasser-in-Öl-Basis, die Feuchthaltefaktoren (z. B. Urea) enthalten, zu pflegen. Auf Duftstoffe und Konservierungsstoffe ist zu verzichten, da diese zusätzliches Reizpotential bedeuten.
Kategorie I – kein Gewebeverlust
Nach Repositionierung des Hautlappens kann z. B. Silikon-Tüll, ein silikonbeschichtetes Wunddistanzgitter als primäre Wundauflage zum Einsatz kommen. Dies verbleibt, je nach Produkt, eine bis zwei Wochen auf der Wunde. Dadurch wird eine Wundruhe gewährleistet, die für das Anwachsen des Hautlappens erforderlich ist. Zudem werden so unnötige Schmerzen minimiert. Als Sekundärabdeckung sind bei wenig Exsudat z. B. sterile Kompressen geeignet. Zur Fixierung können z. B. eine silikonbeschichtete Transparentfolie oder ein elastischer Schlauchverband genutzt werden.
Kategorie II – teilweiser Gewebeverlust
Die Versorgung erfolgt wie bei Kategorie I. Ergänzend können bei höherer Exsudation anstelle steriler Kompressen eine Vlieskompresse mit Superabsorber oder ein silikonbeschichteter feinporiger Polyurethanschaumverband zum Einsatz kommen.
Tipp für Kategorie I und II: Nach Applikation der Sekundärabdeckung oder des Schaumverbands ist es hilfreich mit einem Pfeil zu markieren, in welche Richtung der Verband bei einem Wechsel zu entfernen ist. Dies beugt einer weiteren Verletzung des Hautlappens vor.
Kategorie III – vollständiger Gewebeverlust
Die Wundversorgung erfolgt wie in Kategorie II. Liegt zusätzlich eine lokale Infektion vor, ist der Einsatz eines Wundantiseptikums in Kombination mit wirkstofffreien atraumatischen Verbandmitteln angeraten. Alternativ können auch silberhaltige Verbandmittel Verwendung finden.
Autor
Kerstin Protz, Gesundheits- und Krankenpflegerin, Projektmanagerin Wundforschung am Institut für Versorgungsforschung in der Dermatologie und bei Pflegeberufen (IVDP) am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf, Referentin für Wundversorgungskonzepte, Vorstandsmitglied Wundzentrum Hamburg e. V., Deutscher Wundrat e. V. und European Wound Management Association (EWMA)
Quellen
International Skin Tear Advisory Panel (ISTAP): www.skintears.org
Konya C. et al. Skin injuries caused by medical adhesive tape in older people and associated factors. J Clin Nurs. 2010;19(9-10): 1236-1242.
LeBlanc K, Baranoski S et al. Skin Tears: State of the Science: Consensus Statements for the Prevention, Prediction, Assessment and Treatment of Skin Tears. Advances in Skin and Wound Care. 2011; 24(9S)
LeBlanc K, Baranoski S, et al. International Skin Tear Advisory Panel (ISTAP) – Validation of a New Classification System for Skin Tears. Advances in Skin & Wound Care. 2013; 26(6): 263-265.
LeBlanc K et al. Best practice recommendations for the prevention and management of skin tears in aged skin. Wounds International 2018.
Protz K (2019). Moderne Wundversorgung, Praxiswissen, 9. Auflage, Elsevier Verlag, München