Kolumne aus der Wundversorgung von Kerstin Protz
Laut der International Association for the Study of Pain (IASP, 1986) ist Schmerz „ … ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potentieller Gewebsschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.“ Generell ist Schmerz eine subjektive Sinneswahrnehmung, die sowohl psychisch als auch physisch empfunden wird, sich bei jedem Menschen individuell äußert und nicht durch Geräte messbar ist. Schmerz ist immer ernst zu nehmen! Der Expertenstandard „Schmerzmanagement in der Pflege bei akuten Schmerzen“ (DNQP, 2011) fordert: „Jeder Patient/Bewohner mit akuten oder zu erwartenden Schmerzen erhält ein angemessenes Schmerzmanagement, das dem Entstehen von Schmerzen vorbeugt, sie auf ein erträgliches Maß reduziert oder beseitigt.“ Zudem formuliert der Expertenstandard „Schmerzmanagement in der Pflege bei chronischen Schmerzen“ (DNQP, 2014): „Jeder Patient/Bewohner mit chronischen Schmerzen erhält ein individuell angepasstes Schmerzmanagement, das zur Schmerzlinderung, zu Erhalt oder Erreichung einer bestmöglichen Lebensqualität und Funktionsfähigkeit sowie zu einer stabilen und akzeptablen Schmerzsituation beiträgt und schmerzbedingten Krisen vorbeugt.“ Schmerz ist ein Warnsignal, das den Körper vor zu erwartenden Verletzungen warnt. Bei Erkrankungen, wie der häufig bei Diabetespatienten auftretenden Polyneuropathie, ist diese Warnfunktion gestört. Aufgrund der nachhaltigen Empfindungsstörung kann sich unbemerkt eine Wunde mit gravierenden Folgeschäden bis hin zur Infektion ausbilden.
Schmerz ist eine subjektive Empfindung über deren Art und Intensität nur der Betroffene selbst eine Aussage treffen kann. Die Befragung des Patienten und seine Beschreibung der empfundenen Schmerzen stellen die Grundlage der Anamnese dar und liefern Hinweise zur Schmerzursache. Folgende Dinge sollten erfasst werden:
- Schmerzart
- Schmerzlokalisation: z. B. Wunde, Wundrand/-umgebung
- Schmerzqualität: z. B. pochend, brennend, ziehend, stechend, drückend
- Schmerzursache: z. B. Druck, arterielle Durchblutungsstörung (Abb. 1 Infizierte Wunde bei pAVK), Infektion (z. B. Abzess, Erysipel), Ödeme, Nahtdehiszenz, Tumor, Hauterkrankungen, Trauma, Verbandstoffe, Verbandfixierungen/-techniken, Wundreinigung (z. B. Spülung, Débridement) (Abb. 2 Chirurgische Wundreinigung mit Ringkürette)
Abb. 1: Infizierte Wunde bei pAVK | Abb. 2: Chirurgische Wundreinigung mit Ringkürette |
Cave: Schmerzauslösende Krankheitsbilder sind grundsätzlich vorrangig zu behandeln und wenn möglich durch eine adäquate Kausaltherapie zu beheben.
- bisher durchgeführte Schmerztherapien: Was wurde wann und wie dosiert; War die Einnahme ausreichend, regelmäßig und zeitnah unter Beachtung des Wirkeintritts (z. B. Einnahme 30 Minuten vor dem Verbandwechsel) oder nur bei Bedarf; Gab es Nebenwirkungen, z. B. Übelkeit, Müdigkeit, Obstipation und wurden diese mit therapiert?
- bisher angewandte Methoden zur Schmerzreduktion: Erfolge/Misserfolge erfassen
- Schmerzerfahrung bezüglich der Wunde und der sich daraus ergebenden Schmerzerwartung für die Wundbehandlung
- Welche Folgen bringt der Schmerz mit sich: z. B. Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, Abhängigkeit von anderen, Angst, Übelkeit, Antriebslosigkeit, Schonhaltung, Schwäche, Bewegungseinschränkung, Arbeitsunfähigkeit.
- Schmerzintensität anhand einer Schmerzskala erfassen: z. B. visuelle Analogskala (VAS), numerische Rangskala (NRS), verbale Rangskala, Gesichter-/Smileyskala
Cave: Keine Verwendung von Tränen, da aufgrund kultureller und persönlicher Prägungen z. B. männliche Personen einen weinenden Smiley nicht markieren würden.
Neben der Anwendung einer Schmerzskala beinhaltet die Schmerzanamnese verbale und nonverbale Kommunikation. Nonverbal wird der Eindruck vom stimmlichen Ausdruck des Patienten (z. B. weinerlich, aggressiv), seine Mimik und Gestik (z. B. Augen zusammenkneifen, Tränenfluss, Zähne zusammenpressen), Schonhaltungen (z. B. Körperteil halten/massieren, erhöhter Muskeltonus) und die allgemeine Körpersprache (z. B. Rastlosigkeit) erfasst. Zudem liefert die Erfassung der Vitalfunktionen bzw. physiologischen Auswirkungen (z. B. schneller Puls, Veränderung der Gesichtsfarbe, schnelle, flache Atmung, Schweißausbrüche) wichtige Hinweise auf mögliche Schmerzsituationen. Manche Patienten können sich nicht mehr selbständig über ihre Schmerzsituation äußern, z. B. aufgrund von dementiellen Erkrankungen. Bei diesen erfolgt eine Schmerzerfassung durch Fremdeinschätzung. Hierfür können folgende Instrumente genutzt werden: Beobachtungsinstrument für das Schmerzmanagement bei alten Menschen mit Demenz (BISAD), Beurteilung von Schmerzen bei Demenz (BESD) oder das Zürich Observation Pain Assessment (ZOPA).
Cave: Das Ergebnis wird durch die Situation, in der die Einschätzung stattfindet, beispielsweise in Bewegung oder beim Verbandwechsel, beeinflusst.
Ein vom Patienten geführtes Schmerztagebuch sammelt zusätzliche Informationen. Besonderes Augenmerk liegt hierbei auf der Ermittlung und Darstellung des Verlaufs der Schmerzsituation, z. B. bei welchen Bewegungen treten Schmerzen auf und bei welchen Gelegenheiten stellt sich Linderung ein. Die Angaben des Patienten werden wertfrei dokumentiert.
Ein Verbandwechsel stellt für den Patienten eine Stresssituation dar, die oftmals mit Schmerzen einhergeht. Schmerzen bedeuten neben den physischen Auswirkungen auch eine erhebliche psychische Belastung und somit eine Einschränkung der Lebensqualität.
Typische Schmerzauslöser beim Verbandwechsel:
- Materialien der trockenen konventionellen Wundversorgung: z. B. verklebte Wundgaze, angetrocknete Kompresse
- zu schnelles Abziehen der Wundauflage oder unsachgemäße Entfernung von Folienverbänden: mögliche Folge -> Hautrisse
- nicht spannungsfrei applizierte Klebevliese oder Pflaster (Abb. 3 Spannungsblasen durch falsch appliziertes Pflaster)
- Reizung durch zu fest haftende Wundauflagen bzw. deren Klebeflächen -> Schmerzen durch überreizte Nerven in der Wundumgebung; ggf. Haarbalgentzündung (Abb. 4 Hautläsionen durch verklebte, trockene Wundauflage)
- Einsatz kalter, nicht angewärmter Wundspüllösungen
- Unnötige Berührung der Wunde und Umgebung
- Zugluft oder langes Freiliegen der Wunde
- ausgetrocknete Wunden
- Unsachgemäße Anwendung von Instrumenten
- Sekundärverbände oder Kompressionsversorgungen falsch fixiert bzw. zu stramm angebracht
Abb. 3: Spannungsblasen durch falsch appliziertes Pflaster | Abb. 4: Hautläsionen durch verklebte, trockene Wundauflage |
Ein koordiniertes Vorgehen aller an der Behandlung beteiligten Personen kann Komplikationen vermeiden. Ein empathischer Zugang zum Patienten ist eine wichtige Voraussetzung. Ein Patient, der Schmerzen erwartet, hat eine ablehnende Haltung gegenüber dieser Maßnahme. Einfache Taktiken und Techniken können die Angst beim Betroffenen lindern oder nehmen:
- Schmerzen immer ernst nehmen!
- Patienten aufklären, Vorgehensweise absprechen und in die Behandlung einbeziehen
- Bei Bedarf Pausen und Ablenkung (z. B. Hand halten), Stoppsignale vereinbaren
- Bei Bedarf Analgetika rechtzeitig verabreichen und Wirkeintritt abwarten
- Fenster schließen, Zugluft vermeiden
- Stressfreie Umgebung schaffen: z. B. Fernseher/Radio ausschalten; Unruhe-/ Lärmquellen, soweit möglich, beseitigen; es sein denn, Patienten wünschen dies als Ablenkung
- Bequeme Lagerung
- Vorversorgung schonend entfernen: ggf. durch vorheriges Anfeuchten oder mit hautfreundlichem Pflasterlöser; Folienverbände durch paralleles Überdehnen der Folie zur Haut ablösen
- Unnötige Reize wie Berührung von Wunde und Wundrand oder Druck vermeiden
- Wundspüllösung vorab anwärmen und mit nicht zu großem Druck einsetzen, Abfluss sicherstellen
- Längeres Freilegen der Wunde vermeiden und zügig weiter verbinden
- Autolytisches Débridement; kein ungeplantes chirurgisches Débridement: vorab Anwendung von Analgesie- oder Anästhesieverfahren je nach Bedarf einplanen, z. B. Einsatz von Lokalanästhetika (EMLA®-Creme) (Abb. 5 Applikation von EMLA®-Creme) oder Verbandwechsel in Kurznarkose durchführen
- Bei gereizter oder mazerierter Wundumgebung Hautschutz applizieren
- Stadien- und wundtypgerechter Verband nach den Kriterien der feuchten Wundversorgung, um z. B. einem schmerzhaften Austrocknen der Wunde vorzubeugen
- Verbände ohne Kleberand bevorzugen bzw. Einsatz von speziell beschichteten Wundauflagen: z. B. mit Silikon oder Soft-Gel (Abb. 6 Silikonwunddistanzgitter appliziert), um ein Verkleben mit dem Wundgrund zu vermeiden (Abb. 7 Hautirritationen durch Kleberand der Wundauflage)
- Wundauflage spannungs- und faltenfrei anbringen; keine Einschnürungen durch zu festes Anlegen von fixierenden Mullbinden oder durch falsch angelegte Kompressionsversorgung provozieren
Abb. 5: Applikation EMLA®-Creme | Abb. 6: Silikonwunddistanzgitter appliziert |
Abb. 7: Hautirritationen durch Kleberand der Wundauflage |
Nach Abschluss des Verbandwechsels sollte der Patient befragt werden, ob der Verband beschwerdefrei sitzt oder einschnürt, ihn einschränkt oder ihm Schmerzen bereitet.
Laut dem DNQP-Expertenstandard „Schmerzmanagement in der Pflege bei akuten Schmerzen“ (2011) sind Pflegefachkräfte für die Erfassung und Dokumentation von Schmerzen in Kooperation mit den behandelnden Ärzten sowie für die Beachtung schmerzminimierender Maßnahmen verantwortlich. Ab einem Schmerz von 3/10 in Ruhe oder 5/10 in Belastung wird eine ärztliche Therapieanordnung eingeholt. Die Verabreichung schmerzhemmender bzw. -stillender Medikamente erfolgt rechtzeitig vor dem Verbandwechsel unter Beachtung des Wirkeintritts.
Grundregeln der systemischen Schmerztherapie
- möglichst orale Einnahme. Nicht i. m. verabreichen!
- ausreichende Dosierung
- rechtzeitig und regelmäßig, ggf. zusätzlich bei Bedarf
- individuelle Dosierung nach dem WHO-Stufenschema
Die systemische Behandlung von Dauerschmerzen orientiert sich am Stufenplan zur Behandlung von Schmerzen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Ursprünglich für die Tumortherapie konzipiert, entwickelte sich der WHO-Stufenplan inzwischen zur Grundlage der zeitgemäßen Schmerztherapie.
Stufenplan zur Behandlung von Schmerzen (modifiziert nach WHO, 1986)
Stufe 1: Nichtopiod-Analgetikum + ggf. Supportiva
Stufe 2 (bei gleichbleibendem oder stärker werdendem Schmerz): Nichtopiod-Analgetikum + schwaches Opioid-Analgetikum + ggf. Koanalgetika und Supportiva
Stufe 3 (bei gleichbleibendem oder stärker werdendem Schmerz): Nichtopiod-Analgetikum + starkes Opioid-Analgetikum + ggf. Koanalgetika und Supportiva
Koanalgetika sind Arzneimittel anderer Indikationsgebiete, die die Therapie unterstützen, u. a. Psychopharmaka (Neuroleptika, Antidepressiva, Tranquilizer). Supportiva, wie Antiemetika, Laxantien, Antacida (H2-Blocker, Protonenpumpenhemmer), Sedativa, Antiallergika und Antitussiva sollen Nebenwirkungen minimieren. Beide Gruppen werden häufig unter dem Begriff Adjuvantien (unterstützende Mittel) zusammengefasst.
Nichtmedikamentöse begleitende Maßnahmen zur systemischen Schmerztherapie
- Berücksichtigung psychischer Aspekte: Ängste nehmen, Vertrauen aufbauen, aufklären, Ablenkung
- Physikalische Therapie, z. B. Kälte-/Wärmeanwendung
- Lagerung unter kinästhetischen Gesichtspunkten sowie Einsatz von speziellen Lagerungshilfsmitteln (z. B. Bananenkissen)
- Meditation, Atem- und andere Entspannungstechniken
- Massage, Akupunktur
- Applikation von Stromstößen und subkutaner Nervenreizung durch die transkutane elektronische Nervenstimulation (TENS)
- Musik
Tipp: Über die Homepage des Wundzentrum Hamburg e.V. ist eine Checkliste „Schmerzerfassung bei Patienten mit chronischen Wunden“ kostenlos als Pdf-Dokument downloadbar:
Autor:
Kerstin Protz
Krankenschwester, Projektmanagerin Wundforschung am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf, Referentin für Wundversorgungskonzepte, Vorstandsmitglied Wundzentrum Hamburg e.V.
Quellen:
Bilder und Text: Kerstin Protz
DNQP Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (Hrsg.) (2011): Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege bei akuten Schmerzen, Osnabrück
DNQP Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (Hrsg.) (2014): Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege bei chronischen Schmerzen, Osnabrück
Protz, Kerstin (Autor); Timm, Jan Hinnerk (Autor) (2019): Moderne Wundversorgung, 9.Auflage, Elsevier Verlag, München
Anke Bültemann | Harald Daum | Werner Sellmer (2018): Wundfibel - Wunden versorgen, behandeln, heilen. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin
Standards vom Wundzentrum Hamburg e.V.: www.wundzentrum-hamburg.de
World Union Of Wound Healing Societies Hrsg. (2004): Konsensusdokument – Reduzierung von Schmerzen bei der Wundversorgung, Medical Education Partnership, London (www.wuwhs.org)