Kolumne aus der Wundversorgung von Kerstin Protz
Der Begriff diabetisches Fußsyndrom fasst alle pathologischen Veränderungen an den Füßen zusammen, die begünstigt oder verstärkt durch eine diabetische Grunderkrankung entstehen. Hierzu gehören z. B. das diabetische Fußulkus, aber auch Nagelbettschädigungen bis hin zur Infektion sowie Deformitäten der Zehen bzw. des gesamten Fußes.
Laut „Deutscher Gesundheitsbericht Diabetes 2017“ ist bei über 6 Millionen Menschen in Deutschland Diabetes mellitus diagnostiziert. Es wird zudem von einer Dunkelziffer von 2 Millionen weiteren Betroffenen ausgegangen. Circa 250.000 Menschen mit Diabetes mellitus haben eine Fußläsion und etwa 1 Mio. Diabetiker ein erhöhtes Risiko, eine solche zu entwickeln. In Deutschland werden jährlich über 40.000 Amputationen an Diabetikern durchgeführt. Davon sind 12.000 Majoramputationen, d. h. Amputationen oberhalb des Sprunggelenks. Aufgrund der erheblichen Konsequenzen, die eine Amputation nicht nur für die Gesundheit sondern auch für die Lebensqualität und den Alltag des Betroffenen bedeutet, ist grundsätzlich das Einholen einer Zweitmeinung in einem spezialisierten Gefäßzentrum vor einer geplanten Majoramputation angeraten.
Im Wesentlichen führen drei Faktoren zur Entstehung des diabetischen Fußsyndroms:
- Polyneuropathie (PNP), ca. 50 %
Bei der PNP liegt eine Schädigung der sensorischen, motorischen und autonomen Nervenfasern vor. Die periphere sensomotorische Neuropathie ist der wesentliche Risikofaktor für die Ausbildung eines diabetischen Fußulkus.
- Periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK), ca. 15 %
Bei der pAVK kommt es durch Verengungen und Verschlüsse der Arterien (Mikro- und Makroangiopathie) zu einer Minderung oder Unterbrechung des Blutflusses.
- Mischformen aus beiden, ca. 35 %.
Die unsachgemäße Behandlung des diabetischen Fußsyndroms kann für den Betroffenen erhebliche Folgen haben und teilweise bis zur Amputation einzelner Extremitäten führen.
aus Protz, K. (2016): Moderne Wundversorgung, 8. Auflage, Elsevier Verlag, München ©
Neuropathie | pAVK | |
Haut | Rosig, warm, trocken (durch verminderte Schweißsekretion), z. T. mit tiefen Rhagaden, Pilzbefall, Einblutungen | Kühl, dünn, pergamentartig, blass oder bläulich, glänzend und haarlos |
Effekte bei Hochlagerung (ca. 30°) | Keine Farbveränderung | Vorfuß erblasst |
Kapillarpuls an den Zehen (Ausübung von leichtem Druck über einige Sekunden auf die Haut) | Ursprüngliche Farbe ist nach ca. 10 Sekunden wiederhergestellt | Dauert bei eingeschränkter Kapillardurchblutung deutlich länger als 10 Sekunden |
Ödem | Häufig nachweisbar | Eher selten; Haut häufig in Falten abhebbar |
Ulzerationen | Kaum oder nicht schmerzhaft, meist am Vorfuß bzw. an druckexponierten Stellen | (Sehr) schmerzhaft, meist an den Extremitätenenden (Zehen) |
Ausbildung von Verhornungen | Hyperkeratosen, Hühneraugen, Blasen an druckexponierten Stellen, Rissen im Fersenbereich | Eher selten |
Fußpulse | Tastbar | Kaum tastbar oder nicht mehr vorhanden |
Erscheinungsbild der Fußnägel | Nagelpilz, Einblutung unterhalb des Nagels | Verdickte Nägel und übermäßige Nagelbildung (Hyperonychie) |
Empfinden | Temperaturen/Schmerzen/ Berührungen/Druck/Vibrationen werden verringert oder nicht mehr wahrgenommen; kein Achillessehnenreflex | Wahrnehmung nicht eingeschränkt, bei zusätzlicher Neuropathie entsprechend verringert; Achillessehnenreflex vorhanden |
Erscheinungsbild der Füße | Fußdeformitäten wie Hammer-/ Krallenzehen, Hallux valgus, Hohl-/ Senk-/Spreizfuß, Fußverbreiterung, glatte Fußsohle ohne Falten, eingebrochenes Fußgewölbe (Charcotfuß) | Keine Deformitäten; ggf. Amputationen (Zehen, Vorfuß, etc.) |
Schmerzen | Kaum oder gar nicht; Missempfindungen wie Kribbeln, Taubheitsgefühl und Kältegefühl an warmen Tagen; nächtlicher Ruheschmerz → Linderung durch Bewegung | Meist sehr ausgeprägte Schmerzen bei Bewegung, Linderung beim Stehenbleiben (Claudicatio intermittens); Ruheschmerz beim Liegen → Linderung durch Beintieflagerung |
Gangbild | Unsicheres Gehen „wie auf Watte“ | Starke Schmerzen bei Bewegung, Wadenkrämpfe, dadurch (sehr) kurze Gehstrecke |
Fotobeispiele |
Ein gängiges Instrument zur Beschreibung des neuropathisch-ischämisch diabetischen Fußes ist die Wagner-Armstrong-Einteilung. Während die Wagner-Klassifikation die Fußulzerationen anhand deren Tiefenschädigung in sechs Grade (0–5) unterteilt, erhebt die Armstrong-Klassifikation zusätzlich neben dem Ausmaß der Gewebsschädigung die Aspekte Infektion und Ischämie.
Wagner-Grad: 0 | Wagner-Grad: 1 | Wagner-Grad: 2 | Wagner-Grad: 3 | Wagner-Grad: 4 | Wagner-Grad: 5 | |
Armstrong-Stadium: A | Prä- oder postulzerative Läsion | Oberflächliche Wunde | Wunde bis zur Ebene von Sehne oder Kapsel | Wunde bis zur Ebene von Knochen oder Gelenk | Nekrose von Fußteilen | Nekrose des gesamten Fußes |
Armstrong-Stadium: B | Mit Infektion | Mit Infektion | Mit Infektion | Mit Infektion | Mit Infektion | Mit Infektion |
Armstrong-Stadium: C | Mit Ischämie | Mit Ischämie | Mit Ischämie | Mit Ischämie | Mit Ischämie | Mit Ischämie |
Armstrong-Stadium: D | Mit Infektion und Ischämie | Mit Infektion und Ischämie | Mit Infektion und Ischämie | Mit Infektion und Ischämie | Mit Infektion und Ischämie | Mit Infektion und Ischämie |
Grundsätzlich lebt jeder an Diabetes erkrankte Mensch mit dem Risiko, ein diabetisches Fußsyndrom zu entwickeln. Daher benötigt er eine individuell angepasste Schulung, in die Angehörige und Betreuer möglichst mit eingebunden werden sollten. Zum vertiefenden Erfahrungsaustausch kann die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe hilfreich sein. Bei Bedarf ist die Unterstützung eines ambulanten Pflegedienstes erforderlich. Auf Basis einer solchen Schulung sind Betroffene in der Lage, Risikofaktoren und Anzeichen, die der Entwicklung eines Fußulkus vorausgehen, zu erkennen und sind zu regelmäßigen Arztbesuchen motiviert. Mögliche Inhalte einer solchen Patienten-/Angehörigenschulung sind:
- Befähigung zur täglichen Selbstuntersuchung von Zehen und Füßen sowie der Inspektion und Austastung der Schuhe vor dem Anziehen
- Befähigung zur regelmäßigen und selbständigen Blutzuckermessung
- Wissensvermittlung zu einer angepassten Ernährung
- Wissen über eine sachgerechte, verletzungsfreie Fußpflege
Die nachfolgende Tabelle gibt einen Überblick über wesentliche Versorgungsaspekte:
Lebensstil anpassen |
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Regelmäßige Kontrollen des Blutzuckerspiegels |
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Fußinspektion |
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Fuß- und Nagelpflege |
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Hautpflege |
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Schuhe |
Als Grundausstattung sind 2 Paar Straßen- und 1 Paar Hausschuhe verordnungs- und erstattungsfähig. Alle 2 Jahre können Straßen- und alle 4 Jahre Hausschuhe neu verordnet werden. Eine fachgerechte Beratung und Vermessung leistet ein orthopädischer Schuhmacher.
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Strümpfe |
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Bewegung |
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Sonstiges |
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Cave: Verletzungen nicht selbst therapieren. Bei Auffälligkeiten oder Verletzungen ist zeitnah der behandelnde Arzt aufzusuchen.
- Stoffwechselkontrolle (Blutzuckereinstellung) und Therapie internistischer Begleiterkrankungen
- Behandlung der pAVK: Revaskularisation, z. B. Bypass, perkutane transluminale Angioplastie (PTA)
- Sachgerechte Druckentlastung: durch orthopädisches Schuhwerk, z. B. Orthesen, Total Contact Cast in Zwei-Schalen-Technik (TCC), orthetische Vakuum-Stütz-Systeme (z. B. VACO®ped Diabetic, AIRCAST® AIRSELECT® ELITE), Interimschuhe, Langzeitverbandschuhe; ggf. anfangs Bettruhe oder unterstützende Hilfsmittelnutzung (Unterarmgehstützen, Rollstuhl); ggf. Einsatz von Filztechnik (zugeschnittene Filzplatten zur Entlastung des Mal perforans)
- Behandlung der diabetischen Neuroosteoarthropathie (DNOAP, Charcot-Fuß) und andere operative Maßnahmen, wie Hallux-Valgus OP, Resektion des Mittelfußknochens, ggf. Minor- oder Majoramputation. Cave: bei geplanten Amputationen grundsätzlich Zweitmeinung einholen!
- Infektbehandlung unter Einsatz zeitgemäßer lokaler Antiseptika, bei Bedarf systemische Antibiotikagabe
- Wunddébridement und individuell angepasste (stadienadaptierte) Wundbehandlung; Cave: Ausnahme ist das arterielle oder das gemischt arteriell-neuropathische diabetische Ulkus mit einer trockenen Nekrose. Diese sind erst im Anschluss an eine erfolgte Revaskularisation lokal zu behandeln.
- Physikalische Therapie
- Podologie
- Patienten- und Angehörigenschulung
Die Therapie und Pflege von Patienten mit diabetischem Fußsyndrom erfordert eine interprofessionelle Zusammenarbeit von u. a. Internisten, Dermatologen, Gefäßchirurgen, Ernährungs- und Diabetesberatern, Physiotherapeuten, Podologen, Orthopädie-Schuhtechnikern sowie pflegerischen/ärztlichen Wundexperten. Der enge Austausch des Versorgungsteams untereinander ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie. Im Fokus der Versorgung stehen der Betroffene, der Erhalt und die Förderung seiner Lebensqualität sowie die Vermeidung von Komplikationen.
Kerstin Protz
Krankenschwester, Projektmanagerin Wundforschung CWC-Comprehensive Wound Center im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Vorstandsmitglied Wundzentrum Hamburg e.V., Referentin für Wundversorgungskonzepte
Quellen:
AWMF Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. Patienten-Leitlinie zur Nationalen VersorgungsLeitlinie Typ-2-Diabetes Prävention und Behandlungsstrategien für Fußkomplikationen. 2008.
AWMF Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. Nationale VersorgungsLeitlinie: Typ-2-Diabetes Präventions- und Behandlungsstrategien für Fußkomplikationen. Version 2.8. 2010. AWMF-Leitlinien-Register Nr. nvl/001c.
AWMF Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. Nationale VersorgungsLeitlinie: Therapie des Typ-2-Diabetes. Version 3. 2013, geändert April 2014. AWMF-Leitlinien-Register Nr. nvl/001 g.
Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) und diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe (2017): Deutscher Gesundheitsbericht Diabetes 2017 – Die Bestandsaufnahme, Kirchheim + Co GmbH Verlag, Mainz
Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) Hrsg. (2015):
Expertenstandard Pflege von Menschen mit chronischen Wunden, 1. Aktualisierung, Osnabrück
Hochlehnert D, Engels G, Morbach S (2014): Das diabetische Fußsyndrom – Über eine Entität zur Therapie, Springer-Verlag, Berlin Heidelberg
Protz K (2016): Moderne Wundversorgung, Praxiswissen, 8.Auflage, Elsevier Verlag, München